Sehen und gesehen werden


    Mit spitzer Feder …


    (Bild: zVg)

    Es war vor rund einem Jahr als die Buchstaben vor meinen Augen verschwammen, als hätte ich schlecht geschlafen. Lange habe ich geglaubt, man kann das irgendwie wegzwinkern. Einfach ein Auge zukneifen und dann geht es schon. Vor allem habe ich aber versucht, das neue Leiden – ein weiteres Zeichen des Alterungsprozesses – zu kaschieren. Wenn mir Menschen mit noch elastischen Linsen (junge Leute) auf dem Smartphone etwas zeigen wollten, habe ich generös genickt und Zustimmung suggeriert, obwohl ich in Wahrheit keine Ahnung hatte, was genau ich da hätte sehen sollen. Aber irgendwann liess sich das nicht mehr verstecken – ich brauchte eine Brille.

    Das war immer der Horror für mich. Vor meinem geistigen Auge zeigten sich Bilder von uralten Lehrerinnen, die streng und schmallippig über die Lesebrille äugten. Ich sah mich schon mit Doppelkinn andere Menschen rüde zurechtweisen und belehren. Oder als zerstreute Professorin über ihren Werken brüten und im Aktenchaos ihre Leserbrille suchen.

    Der Volksmund spricht von «ALTERSWEITSICHTIGKEIT», als hätte das auch etwas Positives, Vorausschauendes, vielleicht sogar Weises. Doch das Wort täuscht über die Tatsache hinweg, dass in Wahrheit mit dem Altern der Augen eine echte Behinderung im Alltag eintritt. Da ich mein Leben lang immer sehr gut gesehen habe, zögere ich den Gang zum Optiker vorerst hinaus und decke mich mit simplen, aber eleganten, modischen Lesebrillen vom Kiosk oder der Buchhandlung ein.

    Die Welt ist leider nur für elastische Linsen ausgelegt. Rein optisch ist bei 40 Schluss. Schilder, Speisekarten und Gebrauchsanweisungen werden zu verschwommenen Ansammlungen seltsamer Hieroglyphen. Teile des öffentlichen Lebens bleiben einem verschlossen, wenn die Brille nicht gerade am Mann oder der Frau getragen wird. Ich bin nur froh, dass Apple auf dem iPhone eine Lupe installiert hat. Das hilft vor allem, wenn die Lesehilfe mal wieder unauffindbar ist. Ebenso musste ich auf allen meinen elektronischen Schreibgeräten die Schrift grösser stellen.

    Mit dem Alter, so scheint mir, kommt leider auch eine gewisse Vergesslichkeit hinzu. Ich kenne Leute, die haben sich gleich acht Lesebrillen im Drogeriemarkt gekauft und sie an neuralgischen Punkten deponiert. Ich gehöre auch dazu: Sämtliche Handtaschen, Nachttisch, Büro und Auto sind nun mit schicken Lesebrillen ausgerüstet. Und doch kommt es ab und zu vor, dass ich diese verflixte Leserbrille suche und nicht realisiere, dass sie vor der Nase liegt. Manchmal vergesse ich die Brille dennoch zu Hause. Das ist immer sehr ärgerlich – dann ist Improvisation und Kreativität gefragt. Ein charmantes Lächeln genügt oft, um mir die Speiskarte vorlesen zu lassen. Man muss sich nur zu helfen wissen. Besser geht es beim Vorlesen der Kinderbücher für meine kleinen Jungs. Hier ist die Schrift meistens recht gross.

    Es dürfte allerdings schlimmer werden. Die Alterssichtigkeit verschiebt sich bis zu einem Alter von 65 Jahren auf einen Abstand von zwei Metern. Drei Dioptrien braucht die Lesebrille dann – momentan bin ich noch bei einer Dioptrie. Rosige Aussichten sehen anders aus. Egal: ich schlage mich vorläufig mit den Drogeriemarkt-Modellen durch und rede mir ein, dass die Brille auf meiner Nase für Klarsicht, Einsicht, Durchblick, Weitsicht und Überblick steht und mir eine gewisse Weisheit und Intellektualität verleiht ganz nach dem Klischee: «Gebildet sein macht kurzsichtig, oder anders herum: Wer eine Brille trägt, ist schlau.» Ich finde, die Lesebrille lässt mich smarter daherkommen.

    Herzlichst,
    Ihre Corinne Remund
    Verlagsredaktorin

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